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Kann ein Naturalist glauben?

Armin Kreiner

 

Wissenschaft lässt sich als ein Projekt verstehen, das dem Ziel dient, die Welt zu erklären, um darin so erfolgreich wie nur irgend möglich handeln zu können. Wer sich an diesem Projekt beteiligen will, hat sich an gewisse Spielregeln zu halten, die im Laufe der Geschichte immer wieder neu verhandelt wurden und teilweise bis in die Gegenwart herein umstritten sind. Eine dieser Regeln scheint seit geraumer Zeit jedoch so gut wie unumstößlich zu sein. Diese Regel besagt, dass in wissenschaftlichen Erklärungen übernatürliche Wesen, wie z.B. Gott, Götter oder Geister, nichts zu suchen haben. Wer Wissenschaft betreibt, muss die Existenz des Übernatürlichen zwar nicht unbedingt leugnen oder den Glauben daran ablehnen. Solange er aber den Spielregeln gemäß Wissenschaft betreiben will, hat er davon auszugehen, dass in der Welt alles mit rechten – sprich: natürlichen – Dingen zugeht. Dieser Grundsatz wird als methodologischer Naturalismus bezeichnet und stellt quasi ein ungeschriebenes Gesetz dar, dessen Übertretung in der Regel die automatische Exkommunikation aus der wissenschaftlichen Forschungsgemeinschaft nach sich zieht. Nicht ganz zu Unrecht wird der methodologische Naturalismus als eine Art wissenschaftliches Dogma betrachtet. Im Unterschied zu religiösen Gemeinschaften zieht die Infragestellung dieses Dogmas allerdings nicht den Verlust des ewigen Heils nach sich, sondern den Entzug von Prestige und Forschungsmitteln.

Auf den ersten Blick scheint die Symbiose von Wissenschaft und Naturalismus für den Glauben an Gott keine allzu bedrohliche Herausforderung darzustellen. Beim methodologischen Naturalismus geht es nicht um die Behauptung, dass Gott nicht existiert, und schon gar nicht um die Behauptung, dass die Wissenschaft dies irgendwie beweisen könnte. Es geht zunächst nur darum auszuloten, wie weit man kommt, wenn man Gott außen vor lässt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich dies noch nicht definitiv absehen. Niemand kann sagen, ob die Wissenschaft jemals an unüberwindbare Grenzen stoßen wird, und es wäre völlig illusorisch zu behaupten, die Wissenschaft habe alle Rätsel gelöst. Aber es ist durchaus realistisch zu behaupten, die Wissenschaft habe viele Rätsel gelöst, die ursprünglich als unlösbar erachtet wurden. Unter allen Menschheitsprojekten dürfte die Wissenschaft das bislang erfolgreichste sein. Von den damit einhergehenden technologischen Errungenschaften profitieren auch diejenigen, die den zugrundeliegenden Theorien nichts oder nur wenig abgewinnen können.

Beflügelt von den erstaunlichen Erfolgen haben sich einige Wissenschaftler zu Wort gemeldet, die zu der Überzeugung gelangt sind, dass Wissenschaft und Religion miteinander unvereinbar sind. Ihres Erachtens spricht die Tatsache, dass sich die Welt so erfolgreich ohne Gott erklären lässt, mehr oder weniger eindeutig dafür, dass es keinen Gott gibt. Für sie ist der Naturalismus nicht mehr nur eine methodologische Vereinbarung darüber, was als gute wissenschaftliche Erklärung durchgeht, sondern eine Aussage darüber, was existiert und was nicht existiert. Die Wissenschaft habe die Welt nicht nur ohne Gott zu erklären, sondern sie habe außerdem zu erklären, dass es keinen Gott gibt. Diese Position wird als ontologischer Naturalismus bezeichnet. Ihr zufolge ist die Wissenschaft der Religion gegenüber nicht neutral oder indifferent, sondern kritisch oder feindselig eingestellt. Vertreter dieser Position genießen häufig große mediale Aufmerksamkeit, was zu dem – unterm Strich – wohl irreführenden Eindruck verleitet, die Wissenschaft sei ein atheistisches und religionskritisches Projekt.

Religionskritisch gesonnene Wissenschaftler können sich zu Recht darauf berufen, dass viele Phänomene, die ursprünglich nur unter Rückgriff auf Gott erklärbar schienen, inzwischen ohne Gott, also naturalistisch erklärbar sind. Das Paradebeispiel ist die Entstehung der biologischen Arten. Charles Darwin lieferte eine im Kern unerwartet einfache naturalistische Erklärung für die Entwicklung biologischer Komplexität und Vielfalt. Was bis dato nur durch einen intelligenten göttlichen Schöpfer erklärt werden konnte, war nun durch geistlose Mechanismen wie Variabilität (Mutation) und Selektion erklärbar. Richard Dawkins, der wohl prominenteste Wortführer der religionskritischen Fraktion, hat behauptet, erst Darwin habe es ermöglicht, ein „intellectually fulfilled atheist“ zu sein, also ein Atheist mit einem guten intellektuellen Gewissen.

Dies allein erklärt allerdings noch nicht die Aversion, die einige Wissenschaftler gegenüber allem hegen, was mit Religion zu tun hat. Allem Anschein geht es ihnen nicht nur darum, religiöse bzw. theistische Erklärungen nach und nach durch naturalistische zu ersetzen. Es geht auch darum, religiöse Erklärungen zu diskreditieren und über kurz oder lang zum Verschwinden zu bringen. Dies zeigt sich vor allem bei den big questions, den großen Rätseln, die nach wie vor unbeantwortet bzw. ungelöst sind, die also noch nicht ihren „Darwin“ gefunden haben. Dazu zählen die Frage nach der Entstehung des Universums bzw. nach der Ursache des Urknalls, die Frage nach der Feinabstimmung der physikalischen Konstanten, die die Entwicklung von Leben und Intelligenz allererst ermöglichten, und die Frage nach der Entstehung von Bewusstsein aus Materie. Die Erklärung, wonach Gott für diese Phänomene verantwortlich ist, wird vielfach nicht einmal in Erwägung gezogen, sondern von vornherein ausgeschlossen oder lächerlich gemacht. Theologische Erklärungen mögen in der Vergangenheit über lange Zeit hinweg als plausibel, sogar als konkurrenzlos betrachtet worden sein. Der Vergleich mit wissenschaftlichen Erklärungen habe jedoch gezeigt, dass dem nicht so ist. „Gott hat es getan“ liefere angeblich gar keine Erklärung, sondern gaukle eine solche nur vor. Barry Palevitz nennt einige der Gründe, die Wissenschaftler vor etwa zweihundert Jahren dazu veranlasst haben, darauf zu verzichten. Die Erklärung „Gott hat es getan“ unterminiere nicht nur die Neugierde, sie löse darüber hinaus auch keine wirklichen Probleme (wie z.B. Krankheiten) und sie erlaube schließlich keine überprüfbaren Voraussagen. Der Rekurs auf Gott zu Erklärungszwecken habe sich als intellektuelle Sackgasse erwiesen (B. A. Palevitz: Intelligent Design’s Empty but Explosive Black Box, in: BioScience 55 (2005) 282). Angesichts der Tatsache, dass man sich innerhalb der theistischen Traditionen auch nach Jahrhunderten nicht darauf einigen kann, wie und wozu Gott die Welt erschaffen haben soll oder wo und wie er in der Welt handelt, lässt sich vielleicht erahnen, warum einige die Geduld verloren haben und theistische Erklärungen als „camouflage of ignorance“ (Peter Atkins) abtun.

Theologischerseits stehen mehrere Optionen offen, sich mit dieser Situation zu arrangieren und das Verhältnis zu den Wissenschaften zu klären. Jede von ihnen hat ihre Vor- und Nachteile, keine drängt sich als die in jeder Hinsicht überlegene auf. Eine erste Option besteht darin, nach Grenzen des wissenschaftlichen Erklärungspotentials Ausschau zu halten, um daraus Kapital für den Gottesglauben zu schlagen. Schwächen des Naturalismus werden dabei automatisch als Stärken des Theismus gedeutet. Folglich gilt es, nach Phänomenen zu suchen, die sich einer naturalistischen Erklärung angeblich ebenso hartnäckig wie dauerhaft entziehen. Dabei handelt es sich hauptsächlich um die schon erwähnten Rätsel von Urknall, Feinabstimmung und Bewusstsein.

Religiöse Apologeten neigen gelegentlich dazu, sich auf überzogene oder radikale Versionen des Naturalismus zu kaprizieren, um dessen Lücken und Schwächen aufzuzeigen. Diesbezüglich ähnelt ihre Strategie der von Religionskritikern, die sich vorwiegend auf die Schattenseiten der Religion stürzen, um diese dann umso leichter in Misskredit bringen zu können. Beliebt und verbreitet ist beispielsweise die Behauptung, dem Naturalismus zufolge sei der Mensch „nichts anderes“ oder „nicht mehr“ als ein „Stück kompliziert organisierter Materie in einer rein materiellen Welt“ (Holm Tetens), was – wohl nicht unbeabsichtigt – gruselig klingt, aber bestenfalls eine Minderheitenposition wiedergeben dürfte. Die Behauptung ist genauso zutreffend wie die Behauptung, Beethovens Neunte sei eine Folge von Noten auf dem Papier oder von Schallwellen bzw. Druckschwankungen. Beides ist zwar nicht ganz falsch, aber eben nicht die ganze Wahrheit. Falsch werden derartige Behauptungen erst durch die – im Fachjargon als reduktionistisch bezeichnete – Hinzufügung von „nichts anderes als“. Eine andere Karikatur des Naturalismus stellt die Behauptung dar, zur Erklärung der Welt bräuchte man nicht mehr als an die zwanzig bis dreißig Elementarteilchen und die Gesetze, die deren Verhalten beschreiben. Mit diesem Inventar lässt sich eine erstaunliche Menge an Phänomenen erklären, aber sicherlich nicht alle Rätsel dieser Welt.

Ein Blick auf das, was die Wissenschaft im Hinblick auf die big questions derzeit anzubieten hat, verblüfft in mehrerlei Hinsicht. Das Universum sei entweder spontan aus dem Nichts entstanden oder habe überhaupt keinen Anfang, weil es in irgendeiner Form ewig existiert. Die Feinabstimmung wird üblicherweise mit einer Version der Multiversumshypothese erklärt, wonach es eine Unzahl physikalisch unterschiedlicher Universen gibt, was der Existenz unseres feinabgestimmten Universums jedes Überraschungsmoment nimmt. Die Hervorbringung von Bewusstsein aus Nervensystemen wird mehrheitlich als biologisches Faktum hingenommen, dessen neurologischen Mechanismus es noch zu entschlüsseln gilt. Vereinzelt wird auch in Frage gestellt, ob sich die Annahme, es gebe so etwas wie Bewusstsein, unserem noch rückständigen neurowissenschaftlichen Erkenntnisstand verdanke und sich mit dem Fortgang der Forschung eines Tages erübrige. Diese Position wird als eliminativer Reduktionismus bezeichnet und erfreut außer ihren Anhängern eigentlich nur Anti-Naturalisten, weil sie eine wunderbare Steilvorlage liefert, den Naturalismus der Absurdität zu überführen.

Angesichts des Diskussionsstandes stellt sich die Frage, ob religiöse Apologeten gut beraten sind, diese big questions zum Anlass zu nehmen, Gott als alternative Erklärung ins Spiel zu bringen. In diesem Fall würde man darauf setzen, dass es Fragen gibt, die gleichsam zu groß sind, um von den Wissenschaften beantwortet werden zu können. Wenn dem so wäre, bräuchte man Gott weiterhin, um die Welt erklären zu können, weil die Wissenschaft eben bestimmte Lücken nicht schließen kann. Dieser Strategie lässt sich unterschiedlicher Nachdruck verleihen, je nachdem, ob man nun die vorliegenden wissenschaftlichen Theorien von Grund auf ablehnt oder ob man sie nur im Vergleich zu theistischen Erklärungen als weniger überzeugend oder wahrscheinlich einstuft.

Unabhängig vom jeweiligen Nachdruck erweist sich diese Strategie als in höchstem Maße riskant, und zwar aus mehreren Gründen. Wer aus der Geschichte nichts lernt, ist bekanntlich dazu verdammt, sie zu wiederholen. Ein Blick in die Vergangenheit lehrt, dass die Wissenschaft ein dynamisches Projekt ist und Erklärungslücken immer wieder geschlossen hat. Dies hat zu dem Eindruck geführt, dass sich die Religion in einem permanenten Rückzugsgefecht befindet und jede Bastion, die zunächst uneinnehmbar erschien, früher oder später doch räumen musste. Hinzukommt, dass die konsequent naturalistisch betriebene Wissenschaft ein im Vergleich zur Religion sehr junges Projekt darstellt, das aber gleichwohl auf eine beeindruckende Erfolgsgeschichte zurückblicken kann. Vergangener Erfolg garantiert zwar nicht zukünftigen Erfolg, lässt es aber als klug erscheinen, den einmal beschrittenen Weg fortzusetzen. Rückblickend basiert dieser Erfolg auf dem Entschluss, es ohne Gott zu versuchen – und wie sich herausgestellt hat, funktioniert dies bislang erstaunlich gut, auch wenn für einige Rätsel noch keine rundum zufriedenstellenden Lösungen gefunden wurden. Trotzdem spricht wenig für die Behauptung, diese Rätsel seien grundsätzlich „zu groß“ für die Wissenschaft, und viel für die Erwartung, dass noch Lösungen gefunden werden, die sich mit Darwins Lösung des Problems der Entstehung der Arten messen können.

Selbst für den Fall, dass sich einige Rätsel langfristig als unlösbar herausstellen sollten, spräche dies nicht zwangsläufig für die theistische Position. Schwächen des Naturalismus sind keineswegs automatisch Stärken des Theismus. In gewisser Weise könnte der Naturalismus sein eigenes Scheitern problemlos erklären, denn nach seiner Sicht hat sich das menschliche Gehirn ursprünglich nicht zu dem Zweck entwickelt, die Mysterien des Universums zu lüften. Daher dürfte es auch nicht überraschen, wenn wissenschaftliche Erkenntnis Bereiche berührt, die das, was Menschen zu verstehen imstande sind, übersteigen. Sollten wir jemals mit einer uns weit überlegenen außerirdischen Zivilisation in Kontakt kommen, die etwa die Rätsel des Urknalls oder des Bewusstseins gelöst hätte und so freundlich wäre, uns ihre Entdeckungen mitzuteilen, würde daraus nicht ohne weiteres folgen, dass wir deren Lösungen auch verstehen könnten. Es wäre möglich, dass unsere Gehirne dazu genauso wenig in der Lage sind, wie dies die Gehirne von Schimpansen im Hinblick auf unsere wissenschaftlichen Theorien sind.

Alles in allem empfiehlt es sich daher, nach alternativen Optionen Ausschau zu halten. Eine solche Alternative folgt dem Motto If you can’t beat them join them. Dies besagt zunächst, dass die Suche nach Erklärungslücken eingestellt wird. Dietrich Bonhoeffer hat vor etwa 70 Jahren gefordert, auf Gott als Erklärungsfaktor zu verzichten. Als Christ müsse man in der Welt leben, etsi Deus non daretur – als ob es Gott nicht gäbe. Konsequent weitergedacht würde dies bedeuten, das naturalistische Credo, wonach es in der Welt durchgängig mit rechten Dingen zugeht, zu akzeptieren und davon auszugehen, dass die Welt im Prinzip – wenn vielleicht auch nicht für menschliche Gehirne – vollständig wissenschaftlich resp. naturalistisch erklärbar ist, dass es also nichts – kein Phänomen, kein Ereignis, kein Naturgesetz, keine Konstanten – gibt, was den Rückgriff auf Übernatürliches nahelegen würde. Im Anschluss daran stellt sich die Frage, ob man diesen Standpunkt vertreten kann, ohne sich von Religion und Gottesglauben verabschieden zu müssen.

Einige religiöse Apologeten neigen dazu, diese Frage zu verneinen. Ihres Erachtens könne der Naturalist, will er konsequent sein, in keinster Weise so etwas wie Religiosität an den Tag legen. Einem Naturalisten, der davon ausgeht, dass der Kosmos alles ist, was je war, ist und sein wird (Carl Sagan), könne nichts heilig sein, und wem nichts heilig ist, der könne auch per definitionem nicht religiös sein, der könne auch keine Werte anerkennen, für die es sich zu leben lohnt, und dem Leben keinen Sinn abgewinnen, der über den Tod hinausreicht. Wenn der methodologische Naturalismus erfolgreich ist und sich die Welt ohne Zuhilfenahme übernatürlicher Wesen erklären lässt, dann folge daraus der ontologische Naturalismus und mit ihm vielleicht nicht das Ende jeder Form von Religion, aber doch zumindest jeder theistischen Religion.

Auch wenn es sich bei der Rede von einem theistischen Naturalismus um eine Contradictio in Adjecto zu handeln scheint, gibt es einige Autoren, die sich als solche bezeichnen, und es lohnt sich durchaus, einen genaueren Blick darauf zu werfen, was sich dahinter verbirgt. Das Gegenteil des Naturalismus ist nicht der Theismus, sondern der Supranaturalismus. Wenn man unter Supranaturalismus die These versteht, wonach Gott an bestimmten Raum-Zeit-Punkten eingreift bzw. interveniert, besteht ein Widerspruch zwischen Naturalismus und Supranaturalismus, nicht aber zwischen Naturalismus und einem Theismus, der keine solchen Interventionen behauptet. Letztlich ist der Naturalismus ein methodologisches Programm. Dessen Erfolg legt für einige die Schlussfolgerung nahe, dass es keine wie auch immer geartete transzendente Realität gibt, eben weil sich die Welt bislang so erfolgreich naturalistisch erklären ließ. Dieser Schluss mag vielleicht durchaus naheliegend erscheinen, trotzdem widerspricht die Überzeugung, dass sich die Welt prinzipiell lückenlos naturalistisch erklären lässt, nicht dem Glauben an einen welttranszendenten Gott, sondern nur dem Glauben an einen Gott, der sich in der Welt antreffen lässt. In einer naturalistisch lückenlos erklärbaren Welt ließen sich keine Indizien entdecken, die Gottes Existenz evident machen würden. Man stieße nirgendwo auf ein Phänomen oder Ereignis, das in unzweideutiger Weise auf Gott als seinen Urheber oder seine Ursache hinweisen würde. Das entspricht offensichtlich nicht der Weltsicht, in der die theistischen Religionen entstanden und über lange Zeit hinweg tradiert wurden. Aber es entspricht der wissenschaftlichen Weltsicht. In einer solchen Welt, in der Gott nicht gebraucht würde, um irgendetwas zu erklären, bliebe er, wenn er existieren würde, gewissermaßen „verborgen“. In einer solchen Welt gäbe es – wie es der kanadische Philosoph John Schellenberg genannt hat – einen reasonable nonbelief. Gottes Existenz ließe sich vernünftigerweise bestreiten.

Ob der Atheismus nicht nur vernünftigerweise möglich, sondern auch zwangsläufig – also die einzige vernünftige Option – wäre, hängt entscheidend davon ab, ob sich Gründe ausfindig machen lassen, die Gott dazu bewogen haben könnten, eine Welt zu erschaffen, in der er verborgen bleibt, eben weil sie sich erfolgreich und prinzipiell vollständig ohne ihn erklären lässt. Das ist das Schlüsselproblem, mit dessen Lösung der theistische Naturalismus steht und fällt, und möglicherweise ist es sogar die Schicksalsfrage, von der die Zukunft des Verhältnisses von Gottesglaube und Wissenschaft auf lange Sicht abhängt.

Lösen lässt sich dieses Schlüsselproblem auf unterschiedliche Weise. Ein Lösungsvorschlag besagt, dass ein Gottesverständnis, das Gott als Erklärungsfaktor für innerweltliche Phänomene denkt, unangemessen ist, weil es die Transzendenz der göttlichen Wirklichkeit nicht wahrt und Gott stattdessen zu einer Ursache unter anderen degradiert. Denkbar wäre aber auch, dass Gott gute Gründe haben könnte, in der Welt verborgen zu bleiben, weil eine naturalistisch erklärbare Welt entweder in sich wertvoll ist oder die Verwirklichung von Werten ermöglicht, die andernfalls ausgeschlossen blieben. Unabhängig davon, welche Lösung sich auf lange Sicht durchsetzen wird, ist davon auszugehen, dass die Akzeptanz der Verborgenheit Gottes die Erscheinungsweisen des Gottesglaubens verändern wird. Einige sind sogar der Ansicht, dass die Einsicht in Gottes Verborgenheit Glauben im ursprünglichen und eigentlichen Sinn allererst ermöglicht. Wenn dem so wäre, könnte sich eines Tages herausstellen, dass die Wissenschaft den Glauben an Gott nicht widerlegt, sondern überhaupt erst möglich gemacht hat, weil man nur in einer Welt an Gott glauben kann, in der sich seine Existenz vernünftigerweise bezweifeln lässt.


Veröffentlicht in "undefinedPodium" 11/2015 S. 5-8, ISSN 1432-7589